Zivilcourage 2.0: Von der digitalen Hilfe zur digitalen Schlacht

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Die einen reden von der digitalen Hilfe. Für die anderen spielt die Einbindung von sozialen  Netzwerken eine eher negativ besetzte Rolle. Die einen freuen sich über die digitale Solidarität. Die anderen sprechen von einer unnötigen Mobilisierung unpolitischer Jugendlicher. Dass das Thema „Soziale Netzwerke in Krisensituationen“ einer Differenzierung bedarf, ist nur wenigen bewusst.

So helfen Facebook & Twitter im Kampf gegen das Hochwasser

Die Bedeutung von sozialen Netzwerken ist momentan vielleicht so unterschiedlich auslegbar wie noch nie zuvor. Im Süden Deutschlands dient sie als DIE Plattform schlechthin für Freiwillige, um die Katastrophenhilfe rund um das Jahrhundert-Hochwasser koordinieren zu können. Sie rufen zu Hilfe und Solidarität auf. Hunderte von Seiten informieren über die Lage, über die Anzahl von benötigten Helfern und über neue Entwicklungen. Egal ob in Sachen, Sachsen-Anhalt, Passau oder Thüringen, die oft als „virtuelle Freunde“ abgestempelten  Bekanntschaften, halten zusammen und formatieren eine Solidarität 2.0. Die Facebook-Gruppe „Hochwasser Passau 2013“ hat mittlerweile über 2000 Mitglieder, die Facebook-Seite  „Infoseite – Hochwasser 2013 Bayern“ gefällt mittlerweile über 133.000 Usern.

Das sagen die Experten

Für den Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger von der Ludwig-Maximilians-Universität München wäre eine derartige Entwicklung 2002 noch nicht möglich gewesen wie er gegenüber „n24“ berichtet: „Für Deutschland ist das zweifellos eine neue Entwicklung“ . Bei der Jahrhundertflut 2002 hätten die sozialen Netzwerke noch in den Kinderschuhen gesteckt. International würden Facebook und Twitter mittlerweile schon stärker bei Katastrophen eingesetzt – etwa bei dem Erdbeben in Haiti. „Vieles passiert momentan spontan“, sagt Neuberger zu der Situation in den Hochwassergebieten. „Es wäre gut, wenn es eine zentrale Stelle gebe, die so etwas wie eine Art redaktionelle Prüfung übernimmt“, regt er an.

Kritik am überschwänglichen Engagement

Andere sehen das große Engagement mit kritischem Blick. Kathrin Schöne, Sprecherin der sächsischen Landesthalsperrenverwaltung sieht das spontane Handeln mit Sorge. So hätten zum Beispiel eine über das Internet organisierte Gruppe ohne Anweisung Säcke auf einen Deich bei Dresden geschleppt. „Teilweise waren sie mit Anhänger und Traktor gekommen.“ Meines Erachtens eine nahezu grundlose Kritik. Im Verhältnis wiegt das Engagement Tausender um einiges mehr als eine Gruppe Jugendlicher, die mit guter Absicht einen Deich durch Säcke stabil machen wollten.

Doch nicht nur Facebook entwickelte sich vom Zeitvertreib zum sinnvollen Netzwerk. Auch auf Twitter informieren selbst  Behörden über neue Spendeneinnahmen, über neue Höchst- oder Tiefstände und über Schulschließungen.

Neben der nachlassenden Kritik an sozialen Netzwerken, findet eine veränderte Wahrnehmung im Bezug auf Jugendliche statt. Die Personen, die sonst in RTL2-Reportagen dabei beobachtet werden, wie sie Sangria aus Eimern trinken, sind nun die jungen Helden, die alten Menschen ihr vielleicht letztes Hab & Gut retten. Die Jugend ist also doch noch, was sie mal war!

„Gebt Gatekeeping keine Chance!“

Eine ebenfalls heikle Rolle spielen die sozialen Netzwerke aktuell in der Türkei. Dort sehen insbesondere die Jugendlichen die sozialen Netzwerke als fast einzigartiges Sprachrohr nach draußen. Die in der Türkei ansässigen Medien berichten einseitig. Sie sind Künstler der Informationsfilterung und des Gatekeepings. Kein Wunder also, dass sich das Volk auf seine Art wehrt. Ihr Versuch: Das Erstellen einer zweiten Öffentlichkeit im Internet, um von dort aus unverhohlen und möglichst anonym Kritik an den Medien, aber vor allen Dingen an der Regierung zu äußern. Um eine Berichterstattung gewährleisten zu können, sammelten drei Protestierende über eine Crwodfunding-Plattform Spenden, um eine ganzseitige Anzeige in der New York Ttimes finanzieren zu können – mit Erfolg. Wie die Wochenzeitung „Zeit“ berichtet zogen die türkischen Medien nach und gaben den Protesten in ihrer Berichterstattung mehr Platz.

Kritik am Social Network

Doch auch hier folgt Kritik auf das große politische Engagement. Die Social-Movement-Forscherin Zeynep Tüfekci beschreibt das Phänomen als „Non-Activist-Participation“. Übersetzt bedeutet dieser Ausdruck, dass die sozialen Netzwerke in ihrer aktuellen Bedeutung selbst ansonsten unpolitische Jugendliche aus de Haus holen. Für mich persönlich keine Basis, um konkrete Kritik zu üben. Die Jugendlichen interessieren sich für ihr Land und wollen Einfluss nehmen – besser geht es doch nicht oder?

Selbstverständlich gefällt das alles einem am wenigsten: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er titulierte  Twitter als „Ärger“. Das hielt jedoch Tausende nicht davon ab, unter dem Hashtag #yedirmeyeceğiz (Kaufen es nicht ab/Schlucken das nicht) ihren Groll in Tweets zu fassen.

Twitter fester Bestandteil der türkischen Debattenkultur?

Hastags wie #GeziParki, #DirekGeziParki und #OccupyGezi sind wohl aktuelle die mit meistgesuchten Keywords bei Twitter. Allein #OccupyGezi wurde knapp eine Million Mal auf Twitter verwendet. Im Gegensatz zum arabischen Frühling vor zwei Jahren stammen dabei 90 Prozent der geografisch georteten Tweets jedoch aus der Türkei.

Wer denkt, dass die Türkei in der Benutzung von Social Networks Deutschland hinterher hinkt, der irrt. Fast die Hälfte der türkische Bevölkerung war im vergangenen Jahr online, mehr als 7,2 Millionen nutzen Twitter und mit über 30 Millionen Facebook-Nutzern gehört die Türkei zu den zehn am stärksten dort vertretenen Ländern weltweit – gleichauf mit Großbritannien.

Fazit: Auch wenn soziale Netzwerke eine Plattform für provokative Kommentare bieten, sind sie vor allen Dingen eine große Chance. Zum einen eine Chance um eine ungeahnt große Reichweite zu generieren und somit einzigartig viele Helfer und Freiwillige mobilisieren zu können. Zum anderen eine Chance für ein Land, was viele Jahrhunderte unter Diktatoren gelitten hat, sich nun autark und meinungsstark zu präsentieren.

(Foto by Markus Angermeier)

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